Zum Thema Wirklichkeit

[Wirklichkeit, die]

 Laut gedacht.

Geht es euch gerade auch so? Ihr schaltet den Fernseher ein und schon ist es vorbei mit der Unbeschwertheit. Es bildet sich ein unschöner Kloß im Hals und plötzlich scheint alles um einen herum nur noch eine gigantisch große Negativblase zu sein.

Die Medienwelle hat dich vom Brett gerissen und spült dich einmal ordentlich durch Sand und Kies, bis sich dein Körper wieder beherzt an die Oberfläche kämpft und tief nach Luft ringt. Geht es zu Ende mit der Welt? Ist der Menschheit noch zu helfen?

Ein wenig dramatisch skizziert, geht es dir gerade wie vielen anderen Menschen auf der Welt auch. Alle sind wir irgendwie auf die Berichterstattung der Medien angewiesen und gerade deshalb fällt es dem ein oder anderen dabei ganz besonders schwer sich dieser Nachrichtendauerbeschallung komplett zu entziehen. Was also tun?
Reduzieren? Verzichten? Ignorieren?

Ich bin der Meinung, dass man auch ohne den täglichen Konsum von Nachrichten gut und eloquent durch den Tag kommt. Gerade aber in Zeiten der Krise, in der beinahe stündlich neue, teils lebenswichtige Anweisungen über den Bildschirm, das Radio, das Internet übertragen werden, mutiere selbst ich zum Nachrichtenkonsument. Ich surfe also mit der Welle, aber muss sie mich dabei eigentlich immer und ständig so unschön vom Brett werfen?

Schlechte Nachrichten verkaufen sich nachweislich besser als gute. Es ist das Drama, das uns an den Bilschrim fesselt. Ob Traumschiff Regie oder Heute Journal, schockierend geht es in beiden Welten zu. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass das Traumschiff eine hunderprozentige Happy-End und Good Feeling Zuschauerschaft bedient und dabei auch hält, was sie verspricht. Mord, Todschlag, Betrügerein, geplatzte Hochzeiten, unterdrückte Vaterkomplexe, aber es gibt IMMER eine Fahrt in den Sonnenuntergang.
Und die Nachrichtensender? Gibt es denn in der heutigen Zeit tatsächlich nur noch negatives zu berichten? Weltuntergang durch globale Erwämung, Plastiktod der Meere, Krieg auf weiter Fläche, Flüchtlingsströme, Waffenhandel, unfähige Politiker – Skandale auf allen Ebenen (um nur einige wenige zu nennen), kein Sonnenuntergang in Sicht.

Perspektivwechsel.

Zu den größten Aha Momenten meiner Studienzeit zählt die Lektüre von Paul Watzlawik „Wie Wirklich ist die Wirklichkeit?“
Ein schlauer Kopf dieser Watzlawick. Er behauptet:
„Die sogenannte Wirklichkeit ist das Resultat von Kommunikation.“

Jetzt wird sich der ein oder andere fragen: Aber Wirklichkeit ist doch das, was wirklich der Fall ist und Kommunikation ist doch „nur“ die Art und Weise dieses „wirklich“ zu beschreiben und anderen verständlich zu machen?
Eigenartig genug, aber – der Herr geht noch einen Schritt weiter und behauptet on top:

Unser wackeliges Gerüst unserer Alltagsauffassungen von Wirklichkeit im eigentlichen Sinne sei als wahnhaft zu bezeichnen und darüber hinaus seien wir andauernd damit beschäftigt diese wahnhafte Wirklichkeit zu Flicken und zu Stützen, wo es nur geht.
Das Ganze auch auf die Gefahr hin Tatsachen so zu verdrehen, dass sie unserer Wirklichkeitsauffassung bloß nicht widersprechen anstatt umgekehrt unsere Weltsicht den „eigentlichen“ Gegebenheiten anzupassen.

Heisst das also, ich bin regelrecht auf der Suche nach schlechten Nachrichten und habe gar kein Interesse daran überhaupt etwas positive Berichterstattung in mein Leben zu lassen? Ist mein Filtersystem kaputt?

Der Glaube, es gäbe nur eine Wirklichkeit, ist der gefährlichste aller Selbsttäuschungen. Es existieren derart viele Wirklichkeitsauffassungen (Filter), dass es desillusionierend und erleichternd zugleich ist:
>> Desillusionierend (zumindest für mich während meiner Studienzeit, die doch so viele Bücher in sich hineingewürgt hat, die ja dann doch scheinbar alle nichts gebracht haben):

Trotz aller Bemühungen wird man nie alles wissen können.

>> Erleichternd:

Andersdenkende müssen nicht länger als komische Gefährliche betrachtet werden.
Stattdessen kann man jetzt, wo man weiss, dass man nie alles wissen können wird, damit anfangen denjenigen zuzuhören, um mehr über deren Wirklichkeitsauffassung erfahren zu können.

Wie das funktionieren soll?
Durch einen anderen Blick auf die Dinge – einen Perspektivwechsel.

Die Medien haben ihre ganz eigene Auffassung von Wirklichkeit, gestützt auf Aussagen (Wirklichkeiten) anderer Menschen. Und nun ist es bekanntermaßen nicht nur ein Mediensender, der uns mit Nachrichten versorgt, sondern viele verschiedene, teils private, teils staatliche Anbieter, die, wenn man genauer hinsieht, nicht unbedingt immer die selbe Sprache sprechen. Vergleichen kann man das mit einer Geschichte, die Herr Watzlawick folgendermaßen zum Besten gibt:

„… ein Kommandant einer österreichischen Abteilung. Er hat Befehl Repressalien gegen ein albanisches Dorf durchzuführen, falls sich dieses nicht verpflichtet gewissen österreichischen Forderungen voll und ganz nachzukommen. Glücklicherweise spricht keiner der Soldaten albanisch noch verstehen die Bewohner des Dorfes auch nur eine der vielen Sprachen, die im ethnischen Mischmasch der sogenannten k. und k. Armee gesprochen werden.

Endlich findet sich ein Dolmetscher – ein Mann, reich an jenem praktischen Verständnis der menschlichen Natur, das die Bewohner jener fernen, fabelhaften Länder östlich und südlich von Wien so besonders auszeichnet.
Und da ist kaum ein einziger Satz in dem ganzen langen Palaver, den er wahrheitsgetreu übersetzt. Vielmehr erzählt er jeder der beiden Seiten nur das, was sie von der anderen hören will oder anzunehmen bereit ist, schiebt hier eine kleine Drohung, dort die Andeutung eines Versprechens ein, bis schliesslich beide Seiten die andere so vernünftig und fair finden, dass der österreichische Offizier keinen Grund für Repressalien mehr sieht, während die Dorfbewohner ihn nicht gehen lassen, bis er gewisse Abschiedsgeschenke annimmt, von denen er wiederum glaubt, es handle sich um freiwillige Wiedergutmachungen.“

Und wo ist jetzt der Praxistransfer?

Was hat das nun mit dem Thema Wirklichkeit zu tun? Die Geschichte berichtet von einem Netz von Lügen und Manipulation, von einem bewusst ausgelösten Chaos. Die Frage, die sich hier stellt ist diese:
Welche Situation war chaotischer und damit pathologischer? Die vor oder nach der Intervention des Dolmetschers?

Die Frage hängt wohl maßgeblich davon ab, welchen Preis wir bereit sind zu zahlen, wenn es um Ehrlichkeit geht, die mit Unmenschlichkeit einhergeht. Oder im übertragenen Sinne auf die aktuelle Nachrichtenlage:
Welche Art der Kommunikation erwartet jeder einzelne im Umgang mit der Corona Krise?

Welche Wirklichkeit wird auf welcher Ebene und Berichterstattung bestätigt oder widerlegt? Kann es eine Art der Kommunikation geben, die uns alle gleichermaßen in unserer eigenen Wirklichkeit abholt? Oder liegt es vielleicht an uns, eine bewusste Auslese an Informationen zu starten, die uns in einem positiveren Blickwinkel (Perspektivwechsel) bestätigen?
Welche Wahrheit möchte ich glauben?

Jetzt, wo wir wissen, dass es entgegen der Hoffnung die eine Wirklichkeit zu finden, viele verschiedene gibt, die wir unmöglich alle im Stande sind zu begreifen – was bedeutet das für uns und unsere Gefühlswelt im Umgang mit dem Thema Corona?

Wir haben es in der Hand unseren Geist gesund zu halten bei all der medialen Dauerbeschallung und eine bewusste Entscheidung zu treffen wie und was wir von all der Informationsflut für uns persönlich mitnehmen möchten. An der aktuellen Lage der Nation ändert das nichts, aber unsere Gefühlswelt hat maßgeblichen Einfluss darauf, in wie weit wir Kräfte mobilisieren können und wollen diese aufgezwungene Quarantäne unbeschadet zu überstehen.
Und wer weiss,  wieviel Gutes wir daraus ziehen können und was davon auch in Zeiten der Normalität als bewährt und unverzichtbar in den Alltag mit übernommen wird.

„Wenn ich denke,
dass ich nicht mehr an dich denke,
so denke ich immer noch an dich.
So will ich denn versuchen nicht zu denken,
dass ich nicht mehr an dich denke.“

-Zen Ausspruch-

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